Samstag, 2. April 2011

Krass! Wir kennen nur noch ein einziges Adjektiv. Egal, ob wir etwas krass finden. Oder krass. von Philipp Schwenke (Danke an Yaso)

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in Lob und ein Tadel, das Lob zuerst: Gelobt sei das Wörtchen »krass« - das Schweizer Messer unter den Vokabeln. »Krass« kann alles, vor allem, jede denkbare Bedeutung annehmen: Das Konzert neulich, ein Autounfall und die Revolution in Libyen sind entweder fabelhaft, schrecklich und überwältigend - oder einfach krass, krass und krass. »Krass« ist der Ketchup der deutschen Sprache, denn es passt zu allem. »Krass« ist das Billy-Regal, das jeden deutschen Satz möblieren darf. Ein dreifach Hoch also auf »krass«: Hoch! Hoch! Hoch!
Und jetzt der Tadel. Ein Tadel an alle, die »krass« benutzen, und das dauernd. Ein Tadel an uns alle: »Ich habe im Lotto gewonnen.« - »Krass.« - »Meine Freundin ist von ihrem Crackdealer schwanger.« - »Krass.« - »Ich binde mir mal kurz die Schuhe zu.« - »Krass.« Könnte uns bitte mal wieder ein anderes Wort einfallen, wenn uns irgendwelche Tatsachen mehr abverlangen als ein Schulterzucken?
Als wir noch Teenager waren, haben uns unsere Eltern vielleicht noch ermahnt, mehr als zwei Adjektive zu nutzen, also nicht alles immer nur »geil« oder »scheiße« zu finden. Aber wer heute zuhört, wie sich unter 35-Jährige unterhalten, der weiß, dass es auf der Welt nur noch zwei Arten von Dingen gibt: krasse - und solche, die so wenig erwähnenswert sind, dass man über sie schweigt.
Krass ist mittlerweile so bedeutungshohl, dass ins Schlingern gerät, wer den Sinn eines Satzes sucht. Selbst der Duden ist ratlos. »Krass« bedeute in der Jugendsprache »extrem gut, extrem schlecht«. Was also heißt der Satz: »Lars ist ein krasser Typ«? Nimmt er zu viele Drogen und bedroht Mitmenschen mit Einwegspritzen - oder schreibt er seine Doktorarbeit in Quantenphysik und kann Skateboard fahren wie Tony Hawk? Es ist verwirrend.
Leider lässt sich nicht mehr genau feststellen, wann »krass« angefangen hat, Gespräche zu überwuchern. Der Ausdruck findet sich schon im Wörterbuch der Brüder Grimm: »nach lat. crassus, doch vermengt mit grasz, gräszlich; ein in manchen kreisen beliebtes superlativisches kraftwort, seit ende 18. jh., wol eben aus der studentensprache: du krasser philister!« Seine aktuelle Karriere aber muss »krass« irgendwann in den späten Achtzigern auf einem Schulhof begonnen haben. Zehn Jahre später stand es schon mit dem Duo Erkan und Stefan auf der Bühne und ließ sich so lange wiederholen, bis ein Comedyprogramm über Doofedaraus wurde. Mittlerweile arbeitet »krass« völlig ironiefrei in den Schlagzeilen von Boulevardzeitungen: »Krass! Familie versteckt Jackos Sperma in einem Geheimlabor«, informierte etwa die »Hamburger Morgenpost« nach Michael Jacksons Tod ihre Leser.
Noch vor vier Jahren schrieb Jens Friebe, Gitarrist, Sänger und Autor: »Unterprivilegierte Jugendliche haben sich, damit sie ihre wertneutrale Einstellung zu allen Dingen des Lebens und des Todes nicht immer neu beschreiben müssen, schon vor langer Zeit das Wort »krass« als Universalurteil ausgesucht, weil es Empfindungen nicht mehr nach ihrer Richtung, sondern nur noch nach ihrer Intensität ordnet.«
Doch das Adjektiv hat es aus der Parallelgesellschaft der Problemjugendlichen hinaus geschafft, es ist ein typischer Werdegang für ein Wort. »Jugendsprache renoviert und rüttelt eine Sprache auf«, sagt Nils Uwe Bahlo, Sprachwissenschaftler an der Uni Münster. Zwar verschwinden viele Angewohnheiten beim Sprechen im Laufe der Jahre wieder, niemand redet mit Ende zwanzig noch so wie mit sechzehn. Aber ein paar Wörter überleben. Manche nur in der Umgangssprache einer Generation. »Spre cher verraten ihr Alter, wenn sie Begriffe aus ihrer eigenen Jugend verwenden. Wer zum Beispiel häufig »ätzend« sagt, geht vermutlich auf die fünfzig zu«, sagt Jannis Androutsopoulos, Sprachwissenschaftler an der Uni Hamburg. Andere Wörter aber schmuggeln sich in die bundesweite Alltagssprache. Die Angewohnheit etwa, Adjektive mit »extrem« noch einmal lauter zu drehen, entspringt der Jugendsprache, aber heute schreibt selbst die FAZ, dass eine Pleite Griechenlands »extrem gefährlich« ist. Es steht also zu befürchten, dass wir »krass« nicht mehr loswerden.
Es passt ja auch so gut. Vielleicht ist »krass« das Wort zur Gegenwart, weil es sich anstandslos in eine Zeit fügt, die ohne grundsätzliche Überzeugungen auskommt. Wir haben gelernt, dass Ideologien zu nicht allzu viel führen. Uns regiert eine Kanzlerin ohne Meinung, und auch wir sollten uns nicht allzu sehr auf etwas festlegen: auf einen Job, eine Beziehung, einen Mobilfunkanbieter, eine Stadt oder einen Standpunkt. Es ist alles wahnsinnig kompliziert, und wer weiß, welche neuen Fakten alles noch mal ändern! Mit »krass« liegt man da nie falsch. Wikileaks zum Beispiel ist krass, die veröffentlichten Irakdokumente sind krass, und der Vergewaltigungsvorwurf gegen Julian Assange ist ja wohl das Krasseste.
Krass ist das Wort, das einspringt, wenn einen alle anderen verlassen haben. Wenn man keine Meinung hat, keine Erfahrung oder keine Ahnung. Deshalb sollte man sich »krass« auch leicht wieder abgewöhnen können - denn abgewöhnen sollte man es sich auf jeden Fall. Dazu ganz einfach vor dem Sprechen kurz nachdenken. In den meisten Fällen fällt einem dann schnell ein, ob eine Tatsache geil oder scheiße ist.